Wir haben da viele Leute verkloppt
Dietmar Dath zum Buch "... auf den Geschmack gekommen" in der FAZ vom 22. Januar 2007
Nützliche Sozialkunde: Wie sich die Belegschaft von "Gate Gourmet" gegen Unterbezahlung wehrte
Zu sehr hat sich die Arbeitswelt gewandelt, als dass die bisherigen Streikformen noch ein anständiges Ergebnis bringen könnten. Lesen Sie, was sich die Leute des Essen- und Getränkeanbieters "Gate Gourmet" einfallen ließen. Die verlässlichste Form gemeinschaftskundlicher Erwachsenenbildung im Kapitalismus ist der Arbeitskampf. Dass dabei in letzter Zeit nicht immer so viel materielles Wohlergehen herausspringt wie erhofft, ist kein Einwand; die herkömmliche Bildung von der Grundschule bis zum Studium schneidet in dieser Hinsicht ja auch nicht viel besser ab. Beim Streiken aber lernt man immerhin selbst im hintersten Winkel der Welt Nützliches darüber, wie heute die internationale Herstellung und Verteilung von Gütern sowie das grenzübergreifende Dienstleistungswesen organisiert sind, was ein Finanzinvestor ist oder wie wirtschaftsjournalistische Abstrakta Marke "Flexibilität" und "Eigeninitiative" sich in der Berufspraxis von Tagelöhnern ausnehmen. Wer sich zur Unterrichtsgestaltung in diesem Fach allerdings allein auf die Lehrpläne der Gewerkschaften verlässt, steht unter Umständen am Examenstag so dumm da wie ein arbeitsloser zuckerkranker Schröder-Wähler nach Verkündigung der ersten konkreten Kopplungseffekte von Gesundheitsreform und Agenda 2010.
Wie war das noch? Die Arbeitsniederlegung ist kein Druckmittel mehr, weil Produktionsstandorte bei allzu anspruchsvollem Betragen der Belegschaften einfach in irgendwelche Niedriglohnsümpfe verlegt werden? Dann verlegen Sie mal einen Flughafen, viel Glück! An genau diesem Punkt setzt die hochinstruktive (und anders als die zahlreichen moralisierenden Sozialreportagen aus alten fordistischen Zeiten sogar unterhaltsame) Geschichte ein, die das Buch "Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet" des Editionskollektivs "Flying Pickets" erzählt.
Ein Mampf- und Getränkeanbieter an internationalen Luftfahrtknotenpunkten namens "Gate Gourmet", kontrolliert von gesichtslosen Geldverschiebern, treibt es mit Unterbezahlung, Überlastung und genereller Gängelung der Beschäftigten 2005 so weit, dass die Arbeitnehmer, obwohl keineswegs vor Klassenbewusstsein strotzend und auf ihr bisschen Geld meistens erheblich angewiesener als das Unternehmen auf sie, den Laden zwischen Mitte beziehungsweise Ende 2005 und April 2006 erst in London-Heathrow und anschließend auch in Düsseldorf mit mehr oder weniger spontanen Arbeitsniederlegungen und allgemeinen Folgsamkeitsverstößen konfrontieren.
Vorgesehen war derlei nicht, schon gar nicht bei uns: "In Deutschland darf man nur streiken", schreiben die Herausgeber, und man hört sie über so viel Ordnungsliebe förmlich seufzen, "wenn der Ausstand auf ein tariflich regelbares Ziel hin geführt werden kann und von einer Gewerkschaft getragen wird. Gute Sitten oder das Gemeinwohl dürfen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden, es dürfen keine Solidaritätsaktionen stattfinden, kein Einfluss auf die Politik darf vom Streik ausgehen. Gerät ein Arbeitskampf in die Illegalisierung, drohen umfangreiche Schadensersatzforderungen."
Die Häkeldeckchenvorstellung von sozialen Auseinandersetzungen, die hinter solchen Reglements steckt, passte gut ins Schaufenster des Westens, solange man dem Ostblock zeigen wollte, dass die Werktätigen ihren Forderungen hierzulande durchaus Gehör verschaffen können - vielleicht sogar schneller und auf rechtsstaatlicheren Foren als die Brüder und Schwestern im Sozialismus. Das Funktionieren solcher Absprachen für fair play hängt allerdings davon ab, dass beide Seiten sich artig daran halten. Die unter neoliberalen Vorzeichen verfügbaren Kampfmittel der Besitzenden zur Disziplinierung unbotmäßiger Arbeitskräfte verhalten sich zur malerischen Vorstellung symmetrischer Verhandlungen wie schwerer Artilleriebeschuss zu den Spielregeln von "Mensch, ärgere dich nicht".
Die "Flying Pickets" schreiben dementsprechend: "Zu sehr haben sich die Antworten von Kapital und Politik gewandelt, als dass die bisherigen Streikformen noch ein anständiges Ergebnis oder Druck erbringen können. Hohe Massenarbeitslosigkeit, flächendeckendes Lohndumping und der Einsatz von Leiharbeitnehmern erzeugen einen starken Druck auf Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Dadurch wird das einzige Druckmittel des Arbeitnehmers, der Entzug seiner Arbeitskraft, fast wirkungslos. Hier müssen die Gewerkschaften neue Strategien entwickeln, wenn sie nicht untergehen wollen." Nun ja, die Warnung klingt ein bisschen unkräftig; auch die Sozialdemokratie ist ja, obwohl sie mit den Bestrebungen, sagen wir Bebels oder Wilhelm Liebknechts (um nicht von gefährlicheren Leuten zu sprechen), nicht mehr viel am Hut hat, keineswegs verschwunden, sondern hat einen Funktionswandel zur Partei der rasanten Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse durchgemacht, die andere Abteilungen des staatstragenden Organisationsspektrums nicht so leicht hätten betreiben können (Hartz IV unter Kohl, das hätte einen DGB-Radau gegeben).
Das Geld, das von überallher Arbeit ansaugt und zu mehr Geld verarbeitet, agiert heute international - gerecht ist also, wenn die Arbeit nun ihrerseits international agieren lernt und die Erfahrungen von Gegenden, in denen es mit sozialdemokratischen Ideen nie besonders weit her war, nun auch den Menschen hierzulande zugute kommen. Die Manieren leiden zwar ein bisschen, aber dafür gewinnt die Sache an Übersichtlichkeit: "Ich habe in der Türkei auch Streiks gesehen", sagt ein mündiger Zeitzeuge im Buch, "nicht als Arbeiter mitgemacht, aber ich hab geholfen als Linker. Die haben uns immer gerufen, wo Streik war. Wir haben da viele Leute verkloppt. Wenn die reingehen an den Arbeitsplatz, während die draußen streiken, dann haben die uns Bescheid gesagt, und wir waren alle da."
Der lange Arm der Investoren hat den Gate-Gourmet-Aufstand am Ende fürs Erste zu Boden gedrückt; auch weil eben nicht "alle da" waren, trotz Solidaritätsgottesdienst am Streikzelt und einer wohlwollenden Visite von Oskar Lafontaine, der, wie man weiß, die soziale Frage zunächst mal im nationalen Rahmen angehen will und jedenfalls nicht den Aufbau länderübergreifender Netzwerke frecher Arbeitsverweigerer, sondern Arbeit für alle fordert, zunächst mal bei uns.
Magenstärkend ist an den in der Chronik geschilderten Vorgängen, dass auf Lafontaine oder irgendeinen anderen Messias zumindest nicht alle warten, bauen und vertrauen, die von der jüngsten Neuorganisation der weltweiten marktvermittelten Produktion und Bewirtschaftung der zweiten Natur erfasst werden. Zumindest einige von ihnen haben schon mal vor jeder neuen Wende in der linken Theorie oder Politik angefangen, Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, die ganz ähnlich einst bei der Schaffung von etwas genutzt wurden, das Arbeiterbewegung hieß. Dass sich das auf höherer Stufe wiederholt, flexibel und modern, müssten eigentlich nicht nur die letzten Marxisten, die sich ansonsten immer nur grämen, dass Wolf Biermann dauernd in den Nachrichten vorkommt, sondern auch echte Liberale begrüßen, denn Konkurrenz und Wettbewerb werden vom freien Spiel der Kräfte gerade auch über die Grenzen bestehender Beschäftigungsverhältnisse hinweg ja bekanntlich befeuert und erneuert.
Was dabei herauskommt, könnte sich dann als dritte Moderne, erweiterter Postfordismus, allerneuestes Ende der Geschichte oder einfach goldenes Zeitalter für uns Überwinder der Arbeitsgesellschaft recht überraschend anfühlen.
DIETMAR DATH.
Flying Pickets (Hg.): ". . . auf den Geschmack gekommen". Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet. Berlin und Hamburg: Assoziation A, 264 S., br., 12,- [Euro].
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.01.2007, Nr. 18 / Seite 37