Solidarität lernen
Gespräch mit Halil Saltan, in SoZ Nr. 5, Mai 2006
Du hast ein halbes Jahr hier am Flughafen Düsseldorf bei Gate Gourmet gestreikt. Wie schätzt du das Ergebnis ein?
Aus finanzieller Sicht ist das Ergebnis nicht sehr blendend. Das Wichtigste, was wir erreicht haben, ist unsere Stärke als Arbeitnehmer. Unser Erfolg war, dass wir jetzt einen Manteltarifvertrag, einen gültigen Entgelttarifvertrag und einen Sozialtarifvertrag haben. Die Leute sind inzwischen so selbstbewusst, dass sie den nächsten Streik locker durchziehen könnten.
Ein erstes Verhandlungsergebnis wurde im Dezember von der Europa-Leitung von Gate Gourmet zurückgenommen. Daraufhin hat die Belegschaft gesagt, sie wolle nicht mehr auf der Basis der Forderungen von Gate Gourmet verhandeln, sondern stellte eigene Forderungen auf. Wie ist es zu dieser Situation gekommen?
Nach jeder Verhandlungsrunde gab es negativere Ergebnisse. Nach jeder Verhandlung mit der Geschäftsführung haben wir den Leuten mitgeteilt, dass wir kurz vor einem Ergebnis stehen und dann hat der Arbeitgeber es wieder zurückgenommen, weil die Amis auf einmal nicht mehr zustimmten. Ständig mussten sie Telefonkontakt halten. Diese Ohnmacht, dem Verhandlungspartner nicht in die Augen sehen zu können, hat die Belegschaft immer wütender gemacht.
Viele hatten schon aufgegeben und mit dem Risiko gespielt, arbeitslos zu werden. Vielen war das egal, weil sie die Schnauze voll gehabt haben. Aber der Zusammenhalt wuchs und wuchs und wuchs. Viele MitarbeiterInnen haben gelernt, sich geradezu zu lieben und sich gegenseitig Akzeptanz und Respekt gegeben. Ich bekomme noch jetzt eine Gänsehaut, wenn ich darüber nachdenke. Das war etwas Wunderbares.
Uns scheint es, dass die Streikenden den Streik irgendwann in die eigenen Hände genommen haben, und dass die NGG als Organisation dann gefolgt ist. Stimmt dieser Eindruck?
Eigentlich hat es mit der NGG Spaß gemacht, über diesen langen Zeitraum zu kämpfen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die NGG die kleinste Gewerkschaft ist. Mit einer Handvoll Leuten hat die NGG einen bundesweiten Streik geschafft. Tagtäglich haben uns NGG-Kollegen als Streikwache unterstützt, obwohl sie auch noch andere Aufgaben haben. Viele Kollegen haben gedacht, dass die Gewerkschaft das schon machen wird. Dann haben sie verstanden, dass die Gewerkschaft nicht alles machen kann.
Eine Macht entsteht daraus nur, wenn die Mitglieder selbst aktiv werden, vor allem beim Streik. Alle haben dann gesagt: "Wir wollen kämpfen bis zum Ende." Die Gewerkschaft selbst hatte bis dahin keinerlei Erfahrung mit solch einem langen Streik und ob man ihn durchhalten könnte. Und dadurch ist die Gewerkschaft mit den streikenden Kollegen zusammengewachsen.
Natürlich gab es äußerst sensible Diskussionen. Aber bis zum letzten Tag haben wir alle Verhandlungsergebnisse der Tarifkommission mit unserem Landesvorsitzenden der NGG, Thomas Gauger, abgesprochen und den Beschäftigten vorgestellt.
Wie war die Stimmung im Betrieb nach dem Streik?
Am 10. April wäre unser erster Arbeitstag gewesen, aber die Leute waren müde und brauchten Zeit, um darüber nachzudenken, was alles während des Streiks passiert ist. Gleichzeitig waren auch die Arbeitgeber in Panik, die mit vielen Leiharbeitnehmern alles unter Kontrolle halten mussten. Deshalb haben wir Urlaub und Abbau von Überstunden unter Berücksichtigung unseres Dienstplans vereinbart. Am 18. April wollen wir dann alle in die Firma gehen, und eine Betriebsversammlung mit allen deutschen Chefs, der Gewerkschaft und den vier neuen Betriebsräten einberufen, um mit allen einen neuen Anfang zu überlegen.
Es ist schon eine Ausnahmesituation, wenn während eines Streiks Betriebsratswahlen stattfinden. Wie hat sich das bei euch ausgewirkt?
Dieser Streik hatte viele Gesichter, und auch die Betriebsratswahl während des Streiks war äußerst interessant und diskussionswürdig. Es wurden zur Wahl drei Listen eingereicht, zwei vom Arbeitgeber beeinflusste und unsere, die "Menschenwürde" hieß. Von sieben Betriebsräten wurden immerhin fünf aus den Reihen der Streikenden gewählt, auch von den Kollegen, die gearbeitet haben. Natürlich war das ein Riesenerfolg, mit dem der Arbeitgeber nicht so glücklich ist. Er hat deshalb das Ergebnis vor Gericht angefochten. Am 2. Juni haben wir einen Kammertermin. Warten wir ab, was dabei herauskommt.
Am Anfang eures Streikes, vor einem halben Jahr, war noch alles sehr still um euch. Die Solidaritätsbewegung musste erst aufgebaut werden. Es dauerte, bis — man kann sagen — fast weltweit die Solidaritätsbekundungen bekannt wurden. Wie sind deine Erfahrungen mit der Solidaritätsbewegung, speziell auch mit den Gewerkschaften?
Das ist eines der heiklen, schmerzhaften Themen. Es gibt ja die verschiedensten Formen von Solidarität: Aktive Solidarität, pauschale Solidarität oder finanzielle Solidarität — es war alles gut. Aber Solidarität im wahrsten Sinne des Wortes, d.h. als gemeinsamer Kampf der Arbeiterklasse, als aktive Solidarität der kämpfenden ArbeiterInnen, das fehlte doch sehr. Und dies wäre wohl zu lernen für künftige Auseinandersetzungen in Deutschland. Dann wird es auch nicht passieren können, dass arbeitende Kollegen gegen streikenden Kollegen ausgespielt werden können.
Die hohe Arbeitslosigkeit von über 5 Millionen spielt eine sehr große Rolle, wenn es um Solidarität geht. Wichtig wäre gewesen, dass die beiden betroffenen Gewerkschaften NGG und Ver.di besser zusammengearbeitet hätten. Das gehört schließlich zur Solidarität. Während die NGG als kleinste Gewerkschaft solch einen großen Erfolg erzielt hat, sollte sich Ver.di überlegen, ob sie künftig nicht mehr Solidarität zeigen sollte, um bei künftigen Streiks erfolgreicher zu sein.
Allein erreichen wir nichts. Ein Streik in Essen, ein Streik in Düsseldorf, ein Streik woanders — das bringt eigentlich nichts. Man hätte die gewaltige Kraft der Streikenden zusammen einsetzen müssen. Aber darüber macht man sich zur Zeit keine Gedanken. Ich war in Essen, in Düsseldorf und in Aachen und habe beobachtet, wie das läuft. Überall wurde der Streik anders ausgeübt. Das reicht aber nicht, es war viel zu passiv. Wir müssen im wahrsten Sinne des Wortes näher rücken. Wenn es sein muss, sollten alle Streiks zusammen gemacht werden, damit man sieht, welche Kraft dahinter steckt. Aber das ist nicht passiert. Jeder streikt für sich selbst. Es fehlte der Zusammenhalt.
Die Gewerkschaftsbewegung steht vor neuen Herausforderungen und einer neuen Strategiedebatte. Es geht um Handlungsperspektiven aus der Defensive heraus. Welche Lehren bietet hier der Streik bei Gate Gourmet?
Nicht nur die Streikenden, jedes einzelne Mitglied muss sich in Zukunft Gedanken über Arbeitskämpfe machen, denn Veränderungen können nur von uns kommen. Die Bewegung muss von unten kommen. Wir können nicht immer verlangen, dass die Gewerkschaft dieses oder jenes tun soll. Alle müssen aktiv werden, so, wie wir es vorgemacht haben. Dies hat Gewerkschafter in ganz Deutschland zum Nachdenken gebracht. Wenn die Gewerkschaften nicht endlich auch auf Führungsebene in die Diskussion kommen, hat die Gewerkschaft in diesem Land keine Zukunft mehr.
Viele Leute fragen: "Wozu bin ich denn noch Gewerkschaftsmitglied?" Wenn sie sich keine Gedanken über den Sinn der Gewerkschaft und ihre eigenen Aufgaben und Rechte machen, werden sie es bald sehr schmerzlich selbst erfahren.
(Das Interview mit Halil Saltan führten Udo Bonn und Helmut Born für die SoZ.)